Bessere Medikamente dank Informatik
Für die Entwicklung neuer Medikamente ist es wichtig zu wissen, wie Biomoleküle, zum Beispiel Viren, aufgebaut sind. Die Bioinformatikerin Anna Theresa Cavasin will mithilfe von Data Science Bilder der Kryoelektronen-Mikroskopie optimieren.
Die Fahrradständer sind leer an diesem sonnigen Herbstmorgen vor dem Centre for Structural Systems Biology, kurz CSSB. In dem interdisziplinären Infektionsforschungszentrum in Hamburg-Bahrenfeld dünnt die Corona-Pandemie die Besetzung der Büros und Labore aus. Anna Theresa Cavasin, Bioinformatikerin und Promotionskandidatin, kommt mit Mundschutz nach unten zur Drehtür, dann führt sie über elegant geschwungene Treppen aus hellem Holz in die offene Konferenzzone im zweiten Stock. Einige Kolleginnen und Kollegen begegnen sich hier auf dem Weg zur Kaffeemaschine, ansonsten herrscht Stille in dem lichten, 2017 eröffneten Neubau auf dem Campus des Deutschen Elektronen-Synchroton DESY.
180 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bietet das CSSB eigentlich Platz. In normaleren Zeiten arbeitet Anna Theresa Cavasin hier an drei Tagen pro Woche gemeinsam mit anderen Forschern in einem der Großraumbüros mit Laborzugang. Die 26-Jährige trägt schwarze Jeans und ein kariertes Flanell-Hemd, ihr Blick ist wach, konzentriert. Seit neun Monaten gehört Cavasin zu den 14 Promovierenden der Hamburger Graduiertenschule DASHH, im Originaltitel: Data Science in Hamburg – Helmholtz Graduate School for the Structure of Matter. Die Schule, die zur Helmholtz Information & Data Science Academy (HIDA) gehört, dem größten, deutschen postgradualen Ausbildungsnetzwerk im Bereich Information & Data Science, bündelt Projekte von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die Grundlagenforschung zur Struktur der Materie betreiben. Cavasins Projekt heißt: „Next Generation Integrative Modeling for Cryo-Electron Microscopy“.
Das Ziel: die mikroskopische Bildqualität von Biomolekülen verbessern
Der abstrakt klingende Titel steht für ein handfestes Ziel: Cavasin will die Bildergebnisse der Kryoelektronen-Mikroskopie, einer zunehmend relevanten Methode zur Strukturbestimmung von Biomolekülen, verbessern. Und zwar, indem sie – vereinfacht gesagt – die schlechten, wenig aussagekräftigen Bilder aus der Unmenge an Aufnahmen, die beim Mikroskopieren entstehen, mittels eines Algorithmus automatisch aussortieren lässt. Seit gut neun Monaten befasst sich die junge Bioinformatikerin jetzt als DASHH-Doktorandin mit der Auswahl von Parametern, die gute Aufnahmen von schlechten unterscheiden. Hat sie diese Variablen festgelegt, wird Cavasin die restliche Zeit ihrer auf drei Jahre angelegten Promotionsarbeit damit verbringen, Algorithmen zu programmieren, die das Bildmaterial dementsprechend sortieren.
Wissenschaftlich betrachtet, ist die Sache natürlich etwas komplizierter. Deshalb ein Blick auf den Ausgangspunkt von Cavasins Forschung. Die Struktur bestimmter Biomoleküle genauestens zu kennen ist ein Grundlagenwissen, das vor allem in der Entwicklung von Medikamenten gebraucht wird. Um an valide Daten über jene Kleinst-Partikel zu kommen, wird zunehmend die Kryoelektronen-Mikroskopie eingesetzt. Sie arbeitet nicht mit kristallisierten, sondern tiefgefrorenen Proben – was unter anderem den Vorteil hat, dass sie Proteine untersuchbar macht, die sich nicht in Kristallform bringen lassen. Die Auflösung der Bilder, die Kryoelektronen-Mikrokope liefern, hat sich in den vergangenen zehn Jahre erheblich gesteigert – 2017 bekamen die Entwickler der Methode für ihre Leistungen sogar den Chemie-Nobelpreis verliehen. Aber es gebe dennoch viele Fälle, in denen die Bildqualität noch nicht ausreiche, sagt Anna Theresa Cavasin.
Warum braucht man Hunderttausende bis Millionen 2D-Mikroskopaufnahmen eines einzigen Moleküls? Sie sind die Grundlage der enorm umfangreichen Berechnung von 3D-Modellen, zum Beispiel eines bestimmten Proteins. Klar ist: Je besser die einzelnen 2D-Bilder, desto exakter das aus ihnen entstehende 3D-Bild. Und was passiert dann mit dem dreidimensionalen Modell? Anna Theresa Cavasin sagt: „Wir wollen möglichst atomgenau sehen, wie ein an einer Infektion beteiligtes Protein aussieht. Nur so können wir spezielle Wirkstoffmoleküle – sprich Medikamente – zum Beispiel gegen ein Virus entwickeln.“
Motiviert zur Forschung durch die Freundinnen
Sie hat sich schon zu Schulzeiten sehr für Biologie interessiert; insbesondere für die chemische und die Molekularbiologie. Gemeinsam mit zwei ihrer Freundinnen, die inzwischen ebenfalls als Naturwissenschaftlerinnen promovieren, nahm Cavasin an Schülerwettbewerben teil. Auf der Website ihrer Schule in Essen, wo sie aufgewachsen ist, findet man noch Bilder, auf denen die Schülerin mit einer Urkunde in der Hand in die Kamera lächelt. Unter anderem hat sie damals für ihren Beitrag für die internationale Biologie-Olympiade „Zwiebelzellen in der Ionenfalle“ untersucht – und ist damit unter den zwölf besten Teilnehmern Nordrhein-Westfalens gelandet. Haben ihre Lehrerinnnen und Lehrer ihre Begabung erkannt und gefördert? Kaum, sagt Cavasin, sie habe selbst viel gelesen, in Büchern und im Internet. Aber am meisten motiviert hätten sie ihre Freundinnen. Sie waren es auch, die sie als 17-Jährige auf das Thema „Frühstudium“ aufmerksam machten. Und so ging Cavasin statt zum langweiligen Englisch-Unterricht, wie sie erzählt, in der 12. Klasse regelmäßig zu ersten Vorlesungen in der Universität.
„Informatik ist für mich die beste Herangehensweise an biologische Fragestellungen, weil sie so strukturiert ist."
Anna Theresa Cavasin, Doktorandin
Nach dem Abitur hat sie dann ein Bachelor-Studium in Dortmund begonnen. Fachgebiet: Chemische Biologie. Aus heutiger Sicht hat ihre Abschlussarbeit über computergestütztes Wirkstoffdesign offensichtlich über ihren weiteren Weg entschieden. Der führte nach Hamburg, für ein Master-Studium der Bioinformatik. Cavasin lernte bei Matthias Rarey, Leiter des Zentrums für Bioinformatik an der Universität Hamburg – und einer der Sprecher der neuen Graduiertenschule DASHH. Rarey betreut jetzt auch Anna Theresa Cavasins Promotionsarbeit. Neben ihrem Schreibtisch im CSSB auf dem DESY-Campus hat sie auch einen Arbeitsplatz an der Uni. Sie sagt, mit der Bio-Informatik sei sie bei ihrem zentralen Interesse angekommen: „Informatik ist für mich die beste Herangehensweise an biologische Fragestellungen, weil sie so strukturiert ist. Ich mag Strukturen. Und ich mag Effizienz.“ Auch in ihrer Graduierten-Gruppe herrsche ein Geist des Wissenwollens. Die gemeinsame Leitfrage sei: Warum ist das so? „Unser gemeinsames Ziel ist Wissensgewinn.“
Ihr Blick auf die Welt sei ein rationaler, sagt Anna Theresa Cavasin. Sie will verstehen. Möglichst bis ins kleinste Detail. „Es hat mich schon immer interessiert, was hinter Prozessen steckt. Warum die Welt so funktioniert, wie sie funktioniert.“ Dass sie sich mit ihrer Promotion auf das Spezialgebiet der Kryoelektronen-Mikroskopie begeben hat, gefällt ihr. „Was wir hier machen, ist kein Job, den viele machen – und ich finde es toll, so etwas irgendwann ganz grundlegend zu verstehen. Natürlich nur so lange, wie ich das Gefühl habe, dass mein Tun sinnvoll ist – und meine Arbeit letzten Endes Menschen ganz konkret hilft.“ Zum Beispiel, indem sie bessere Medikamente bekommen.
Autorin: Christiane Langrock-Kögel